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 Das Leben, das Universum und überhaupt alles...

ALTER STOFF IN DIGITALEN ZEITEN
Rückwärts gewandt, das aber durch und durch auf digitale Art – 1917 von Sam Mendes

1917 ist eine Heldengeschichte, die es so im 21. Jahrhundert nicht mehr geben kann. Nicht zuletzt auch, weil  – Achtung, Spoileralarm – dies ein Kriegsfilm mit Happy End ist. Der Auftrag, den zwei englische Soldaten auf einem Schlachtfeld des 1. Weltkriegs erhalten, wird erfüllt. So sterben an diesem Tag zwar ein paar Dutzend Soldaten und viele andere werden verstümmelt, aber mehreren hundert wird das Leben gerettet, die Kriegsmaschine tatsächlich kurz gestoppt, der erfolgreiche junge Protagonist erwirbt sich den Respekt eines älteren Offiziers, das Publikum kann beruhigt nach Hause gehen: Ja, Du kannst das Unmögliche schaffen.

Regisseur Sam Mendes, der auch Co-Autor des Buches ist, erzählt von einer Zeit, in der Soldaten mit Bajonett auf dem Sturmgewehr in die Schlacht stürmten und Gegner noch im direkten Kampf umgebracht wurden. Die maschinelle Kriegsführung entwickelt sich erst, sie ist noch unzuverlässig: die Telegraphenleitung gekappt vom Feind, ein Panzer steckt als Schrotthaufen in einem Bombentrichter, ein Doppeldecker kracht unkontrolliert in eine Scheune. Die Menschen hingegen funktionieren: Bleibt ein Lastkraftwagen mit Soldaten im Schlamm stecken, heben und schieben die Männer das Teil wieder auf den Weg. Ein Hoch der Physis und dem menschlichen Überlebenswillen.

Die Frage, wie sinnvoll eine Tat sein kann, die in einen durch und durch sinnlosen Kontext eingebunden ist, stellt Mendes eher pflichtbewußt und nur am Rande – wer heute überlebt, wird morgen in eine andere Schlacht geschickt, erklärt ein Offizier nüchtern und fragt eher deprimiert denn zynisch – warum also warten?

Mendes ist weit davon entfernt, Krieg als sinnlos zu zeigen oder auf Heerführer zu fokussieren, die eine Schlacht alleine um der Schlacht willen führen. Seine Geschichte soll einen Sinn haben. Auf dem Weg zur Erfüllung werden verschiedene Konventionen des Genres bedient, allen voran bei den Offizieren: Hier der Primus inter pares, mehr ein Botschafter als ein Befehlshaber, dort der analytisch, präzise und ganz sachorientiert handelnde General, der vermeintlich das Große im Blick hat, dann der Zyniker, der im Angesicht der ausweglosen Lage auch irrwitzig scheinende Befehle nicht mehr hinterfragt, schließlich der vom Erlebten und dem Wissen um das Kommende gezeichnete Offizier, die empathische Vaterfigur.

Wie die Offiziere alle auf ihre Art funktionieren, so funktioniert auch die Geschichte. Zwei Soldaten sollen eine isolierte Division davor bewahren, in eine Falle zu stürmen. Ihre Bewegung über die Frontlinie durch Niemandsland zu verlassenen feindlichen Schützengräben und durch Hinterland bis zum Ziel der irregeleiteten Truppe ist wie aus dem dramaturgischen Lehrbuch gestaltet. An- und Entspannung sind wohl dosiert, eben noch sind wir in der Enge eines unterirdischen Gangs öffnet sich kurz darauf der Blick und zeigt die Weite hügeliger Felder, um den Zuschauer dann bald schon wieder in Nahaufnahmen ein einsames, möglicherweise in Feindeshand befindliches Bauernhaus erkunden zu lassen. In der Sammlung genretypischer Versatzstücke fehlt ebensowenig die Szene der Menschlichkeit (inkl. Frau mit Baby) wie die Inszenierung der morbiden Schönheit des Krieges, wenn in der Nacht Leuchtraketen die Schatte der Ruinen einer Kleinstadt tanzen lassen.

Kurz vor dem Ziel ist einer der beiden Soldaten tot, der andere nur noch Bote: Seinen Helm hat er schon lange verloren, dann auch seine Waffe, jetzt bleibt nur sein Auftrag. Doch bevor er diesen erfüllen kann, zieht ihn in einem Wäldchen eine süße Stimme in seinen Bann. Und da haben wir den ikonographischen Moment der Ruhe vor dem Sturm, der jeder Drachenkämpfer-Fantasymär zur Ehre gereichen würde: Ein Soldat singt für seine Kameraden ein trauriges Lied. Ein letzter Moment der Kontemplation vor der Schlacht und eine in ihrer inszenatorischen Einfalt schrecklich kitschige Szene.

Unser Held war fast verschüttet, fast ertrunken, fast erschossen, fast erfroren, fast verloren, er hat im Kampf Mann gegen Mann mit dem Gewehr und seinen Händen getötet, er ist um sein Leben geschwommen, geklettert, gekrochen und gerannt. Jetzt ist er fertig, der Film aber noch nicht am Ende seiner Kräfte: Was fehlt ist eine Massenszene mit Kampfgetümmel, quasi der Endspurt eines Heldenepos. Und so rennt der Soldat im Granatenhagel zwischen Explosionen durch ein Heer stürmender Soldaten ins Ziel.

Für die Perspektive, der Hölle der Schützengräben wahrscheinlich nur tot entkommen zu können, findet Mendes nur wenige Bilder. Erst in den letzten Minuten bekommt der Wahnsinn kurz ein Gesicht: Der von unserem Protagonisten gesuchte Captain ist im Moment der gerade beginnenden Schlacht starr vor Angst und ganz offensichtlich nicht mehr Herr seiner Sinne – er kann keine Befehle erteilen und auch keine Nachrichten entgegen nehmen. Würde der Film hier enden, die ganze Bewegung also vergebens gewesen sein und das Massaker seinen sinnlosen Lauf nehmen, 1917 hätte sich vielleicht eine gewisse Größe bewahren können. Doch auch die letzten Hürden werden überwunden, die Botschaft erreicht seinen Adressaten, der kommandiere Colonel bricht den Angriff ab und 1917 endet, wie er angefangen hat – idyllisch. Alles ist gut.

Insofern ist 1917 nicht mehr und nicht weniger als ein Actionfilm. Wäre er klassisch erzählt, müssten wir über ihn kein Wort verlieren. Es ist die Inszenierung, die 1917 zu einem faszinierenden Kinoerlebnis macht. Denn Sam Mendes begleitet seine Protagonisten in vermeintlich einer einzigen lange Einstellung ohne Schnitt im klassischen Sinn. So ist die Kamera von Roger Deakins der eigentliche Held – immer ganz nah an den Protagonisten, verliert sie die Kämpfer nie aus dem Blick.

Das macht vor allem den Beginn spektakulär. Wenn ein Film, der an einer Front des 1. Weltkriegs spielt, mit der Totalen einer grünen Frühlingswiese beginnt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir in Nahaufnahmen den Soldaten in den Schützengräben ins Gesicht sehen. Bei Mendes dauert es keine zwei Minuten, dann sind die grünen Felder im Bildhintergrund verschwunden und die rückwärts gleitende Kamera bewegt sich durch das Labyrinth der tief in die Erde gegrabenen Befestigungen, vorbei an braunen Wänden mit kauernden, schlafenden, stehenden, rauchenden Soldaten, dabei immer jene zwei im Blick behaltend, die wir die nächsten zwei Stunden begleiten werden.

Natürlich ist der Film geschnitten. Anders als Sebastian Schippers “Victoria”, der seine Geschichte in einem Take in Echtzeit erzählt, verkürzt Mendes die Filmzeit, komprimiert das Geschehen, erzählt in Akten, sodass, was in der Wirklichkeit vielleicht 18 Stunden gedauert hätte, in zwei Stunden erzählt wird. Motion Tracking und digitale Bildbearbeitung machen es möglich, dass die Schnitte unsichtbar werden, dass die Continuity in der Bewegung bewahrt bleibt. Die Abfolge von Nahaufnahmen und Totalen, die Veränderung der Perspektiven, die Bewegung der Kamera um die Protagonisten herum ist virtuos, alle Bilder sind durchkomponiert und nahtlos montiert, der filmische Erzählweise im ersten Viertel meisterhaft: Das Robben aus dem Schützengraben heraus, das Kriechen an gefallenen Soldaten und verwesenden Pferden vorbei, das geduckte Laufen durch Stacheldrahtverhaue und wassergefüllte Bombentrichter hindurch illustriert die vorangegangenen Kämpfe. Die Ungewissheit, ob sich der Feind tatsächlich wie vermutet zurückgezogen hat, erzeugt Spannung: Wie im klassischen Horrorfilm lauert die Bedrohung im Off, der Zuschauer weiß nicht mehr als die Protagonisten, oft sogar weniger, das macht den Anfang packend. Doch dann verliert sich der Drive und der Film reiht Action-Episoden aneinander.

So ist 1917 eine Geschichte aus der Frühzeit der maschinellen Kriegsführung, sozusagen der Abgesang auf das heroische Soldatentum, erzählt mit den Mitteln des digitale Zeitalters, inklusive Drohneneinsatz und Bildstabilisator. Die Filmmaschine im Turbo – ein altbackenes Epos, inszeniert mit modernsten Mitteln.

(13. Januar 2020)

1917
Regie: Sam Mendes
Buch: Sam Mendes & Krysty Wilson-Cairns
Kamera: Roger Deakins
Darsteller: George MacKay, Dean-Charles Chapman
Kinostart Deutschland: 16. Januar 2020

 

EIN VOLK, EINE REPUBLIK, EINE KANZLERIN
Die personenbezogen Rhetorik von Medien spielt Rechtspopulisten in die Hände

Die Welt war schon immer komplex, aber früher waren die Informationskanäle weniger, die Zugänge schwieriger. Vor vierzig Jahren gab es das Erste und das Zweite, hier Spiegel und Stern, dort Bunte und Quick, es gab die FAZ und die Rundschau und als selbsternanntes Volks-Organ die Bild. So konnte man den Eindruck gewinnen, irgendwie sei alles überschaubar.

Es gab klare Positionen - rechts und links, Kommunismus und Kapitalismus. Alles war polarisiert - schwarz und weiß, männlich und weiblich.

 Das ist heute anders. Auch in der Politik. Wir leben in einer parlamentarischen Demokratie, die durch vielfältige, sich stark unterscheidende Interessen geprägt ist. Das spiegelt sich unter anderem darin wider, das heute im Bundestag sieben Parteien vertreten sind und nicht vier (in der Wahrnehmung eigentlich drei), wie das in den Hochzeiten der Volksparteien in den sechziger und siebziger Jahren der Fall war.

Die Idee, ein Land könne in seiner gesamten Vielfalt und seinen unterschiedlichen Interessengruppen von zwei Volksparteien repräsentiert werden, ist anachronistisch. Doch es ist, wie Peter Lösche bereits 2009 konstatierte, nach wie vor so, "dass wir uns normativ immer noch an den 'guten alten Zeiten' orientieren, in denen zwei starke Volksparteien miteinander konkurrierten und eine kleine, eine halbe Partei den Ausschlag gab über die Koalition und die Regierungsbildung. In unseren Köpfen hat sich dieses alte Parteiensystem der 1950er, 1960er und 1970er Jahre wie ein Vorbild verfestigt. In der politischen Realität aber existiert es nicht mehr." (Essay "Ende der Volksparteien", Peter Lösche, Bundeszentrale für politische Bildung, 3.12. 2009)

Viel irritierender ist 
das Bild, das Spiegel Online und andere Medien von politischer Führung zeichnen: Es hat mehr mit dem 19. als mit dem 21. Jahrhundert zu tun. Eine Person steht an der Spitze, diese muss stark und kompromisslos sein. Oder wie sonst sind die Betreffzeilen der morgendlichen Lageberichte von Spiegel Online aus Hamburg zu deuten? 

Eine Auswahl seit 3. September:

3.9. Als Angela Merkel gefragt wurde, ob man sie stürzen darf

7.9. Seehofer ist wieder voll muttiviert - im Kampf gegen Merkel

12.9. Die Merkel-Junker-Allianz

17.9. Warum schweigt Merkel?

25.9. Die Union übt den Kanzlerinnensturz

26.9. Antreten zur Kampfkandidatur (Die Brinkhaus-Revolution)

29.9. Der artige Putsch gegen Merkel

2.10. Merkel-Nachfolge: Spahn besucht schon mal das Weiße Haus

4.10. Merkel darf endlich wieder ins Ausland

17.10. Merkels Schicksal hängt an Schäfer-Gümbel
Man spürt die Sehnsucht nach der starken, alle Probleme weise richtenden Führungsperson, zu der das Volk aufschaut, egal ob aus Respekt oder aus Angst. Da wabert es von gerichteten Caesaren, hintergangenen Monarchen und aufwieglerischen Subalternen.

Es ist verständlich, dass Politiker (und andere Führungskräfte oder solche, die sich dafür halten) aus eigenen Interessen ihre Macherqualitäten gerne ausstellen. Aber warum übernehmen Medien wie Spiegel Online diese Bilder? 

Vielleicht, weil sich so Geschichten besser und vor allem leichter erzählen lassen. Diese brauchen Protagonisten, klar konturiert. Alle lieben „House of Cards“! Aber das ist eine fiktionale Erzählung, die zum leichteren Goutieren einfach gestrickt sein darf. Soll Journalismus auch derart vereinfachen dürfen?

Guter Journalismus sollte komplexe Darstellungen vieler handelnder Personen und ihrer unterschiedlichen Interessen, die sich manchmal auch (abhängig von der politischen, wirtschaftlichen Konstellation) ändern, leicht verständlich, aber differenziert darstellen.

Doch in diesem mit Klick-Baits arbeitenden Kampf um Aufmerksamkeit ist das wahrscheinlich zu viel verlangt. Und so machen es sich Medien wie Spiegel Online einfach und bleiben schlicht. Das wiederum spielt Bewegungen wie Pegida und Parteien wie der AfD in die Hände, für die die Lösung komplexer gesellschaftlicher Probleme in einem simplen „Merkel muss weg“ besteht.

(17.10.2018, überarbeitet 12.12. 2018)

LINK:
Gero Neugebauer "Ein Begriff und seine Geschichte: Volkspartei ist vorbei"


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OLD GOLD, RETOLD
"Best of Digital Marketing" zeigt einmal mehr:
Das Fundament muss stimmen!

Das Attribut „Best of“ signalisiert mehr als eine Auswahl, es verheißt die Darstellung des Wesentlichen eines Themas, mithin Konzentration. Der Eintageskongress „Best of Digital Marketing“ in München wurde diesem Anspruch gerecht: Zu erleben waren 12 Beiträge in einer Nettozeit von sechseinhalb Stunden, Fragen inklusive. Ein geballtes Programm, das ich hier (einem alten Küchentrick für intensiveren Geschmack folgend) nochmals reduzieren möchte, auf dass die Gemeinsamkeiten vieler Beiträge intensiv hervortreten.

Kenne Deinen Kunden:
War wichtig, ist es noch

Erste Erkenntnis: Erfolgreiches Marketing folgt auch in einer digitalen Welt einigen pre-digitalen und somit lange bekannten Prinzipien. Im Zentrum erfolgreichen digitalen Marketings steht nach wie vor das Wissen um die Wünsche potenzieller Kunden, um ihre Bedürfnisse, darum, welche Erwartungen sie an eine Dienstleistung oder an ein Produkt stellen. Wer die Fragen seiner Nutzer kennt, diese Fragen antizipiert und zum Teil seiner Online-Kommunikation macht, vergrößert nicht nur seine kommunikativen Chancen, sondern auch die, bei Suchmaschinenabfragen ganz oben in Erscheinung zu treten. Diese Fokussierung ist mancherorts Folge eines Perspektivwechsels, den G+J eMS-Executive Frank Vogel so beschreibt: „Von der Produktorientierung zur Konsumentenorientierung.“

Kennenlernen:

War noch nie einfacher

Die Frage, wie man die Menschen wirklich kennenlernt und tatsächlich erfährt, wie sie ticken, ist heute leichter denn je zu beantworten, ermöglichen die digitalen Medien doch kostenlose Marktforschung. Wie Jägermeister-Marketer Felix Jahnen unterstrich: Einfach ausprobieren, immer wieder ausprobieren und was erfolgreich ist finetunen.

Filmtheoretiker kennen das Prinzip aus den Genre-Filmen der US-Filmstudios: Wiederholung und Variation. Nur sind heute die Kosten der Experimente ungleich niedriger und die Erkenntnisse ungleich schneller zu haben, als vor 70 Jahren.

Die Zielgruppe erzählt,
man muss ihr nur zuhören

Die Kommunikation muss stets relevant für die Zielgruppe sein. Wer könnte bessere Inhalte liefern, als die Zielgruppe selbst? Die Kosmetikmarke Catrice schaut sich die von Nutzern generierten Inhalte (UGC) ganz genau an. Sie bedient sich dabei automatisierter Mechaniken des Dienstleisters Olapic. Und so finden 40 Prozent des UGC ihren Weg in die Marken-Kommunikation von Catrice, die damit dem Credo von Olapic-Gründer Jose de Cabo entspricht: „Influencers are the best advocats for your brand!“ Was wiederum die Bindung zur den Käufern stärkt, mit denen Catrice sich so im fortwährenden Dialog befindet. Dieser Austausch fördert die Glaubwürdigkeit und trägt zum Community-Building bei.

Der große Wert
von Communities

Communites sind, wenn man sie denn mal hat, eine verlässliche Basis für Marketingkommunikation. Bei Rocket Beans TV, dem ersten 24/7 Online-Fernsehprogramm, gestaltet die im Kern zwischen 18 und 35 Jahren alte weit überwiegend männliche Community das Programm mit. Auch hier können Reaktionen auf Veränderungen unmittelbar erfahren und auf diese schnell reagiert werden. Eine derartige Gruppe ist für Sponsoren Gold wert!

Wertschätzung zeigen,
wahrhaftige Geschichten erzählen

Was Toan Nguyen über den gewinnbringenden Umgang mit der eSports-Community sagte, kann ohne Risiko auch auf andere Gruppen angewandt werden: Wertschätzung der eSports-Heroen kommt bei der Community an. Gut ist es auch, ihre Geschichten zu erzählen, also zu zeigen, dass man die Gruppe und die Geschichte ihrer Individuen verstanden hat - wie war das damals, als der Nerd sich lieber dem Zocken in der Bude hingab, statt wie andere seiner Altersklasse im Skatepark zu posen? Was der Executive Consulting Director JvM/Sports mit vielen Beispielen illustrierte, war im Grunde Beleg für die alte, oft gebrauchte, nach wie vor aber gültige Forderung an Unternehmen und Agenturen, der Zielgruppe ein für sie relevantes Angebot zu machen.

Dialog anbieten
und die digitalen Möglichkeiten nutzen

Die digitalen Möglichkeiten der Kommunikation haben die Intensität der Ansprache vergrößert und übersteigen oft die Kapazitäten der angesprochenen Organisationen. Sieht diese sich wenigen, häufig gestellten Fragen gegenüber, empfiehlt Frederik Schröder, mit Chatbots in den Dialog zu gehen. Greenpeace hat dies mit Schröders Unterstützung zum Thema „Gütesiegel im Fleischmarkt“ umgesetzt und einen Chativist gestartet. Auch hier steht wiederum der Nutzer im Zentrum der Kommunikation.

Mafo geht heute leichter,
bringt aber auch bessere Ergebnisse

Der Nutzer, Kunde, Interessent liefert mit seinem Verhalten die Daten für Marktforschung frei Haus. Deren Analyse bringt valide Erkenntnisse und ist klassischer Marktforschung, die Menschen nach Haltungen und Meinungen fragt, weit überlegen, wie Dr. Sepita Ansari illustrierte. In Befragungen sagen Nutzer, sie möchten nicht, dass ihre persönlichen Daten von Unternehmen zur individuellen Ansprache und Unterbreitung von Angeboten verwendet werden. Ganz überwiegend reagieren Konsumenten dann aber positiv, wenn dies in der Praxis erfolgt (siehe Amazon). Es geht also immer wieder darum, das Nutzerverhalten zu beobachten und die hierbei ermittelten Daten zu interpretieren.

Nicht überall, wo KI drauf steht,
ist auch KI drin

Diese Datenanalyse wird heute oft schon als Künstliche Intelligenz bezeichnet, hat damit aber wenig zu tun. „Es ist einfach Computing!“, sagt Sven Krüger, CMO von T-Systems International. Jürgen Seitz, Professor an der Hochschule der Medien in Stuttgart, sieht das ebenso: Zwar sind die Datenmengen, über die Marketer mitunter bereits verfügen können, auch schon groß. Doch um tatsächlich in KI-Forschung vorzudringen und Deep-Learning-Prozesse aufzusetzen, brauche es ungleich mehr Daten. Was im Marketing erhoben werde, sei nichts im Vergleich zu den tatsächlich benötigen Datenmengen, die für KI-Prozesse erforderlich sind.

Mit den verfügbaren Daten kann man gleichwohl heute schon eine Menge machen, beispielsweise Bots programmieren, die kompetent, automatisch, konsistent, global, 24/7, auf die Markenwerte ausgerichtet, freundlich und ständig optimiert Anfragen beantworten und den Dialog aufrechterhalten.

Auch diese Nutzung reiche schon sehr weit, hier und insbesondere für die weitere Entwicklung der Technologie von Big-Data und KI bedürfe es eines neuen Gesellschaftsvertrags, wie mit den Folgen umzugehen ist. Hieran müssten alle Gruppen mitwirken, Nicht zuletzt aber auch Sozialwissenschaftler, Psychologen und Juristen.

Sprachverarbeitung verändert
die Online-Kommunikation grundlegend

Die heutige Möglichkeiten der Datenerhebung und -verarbeitung hat der Analyse von Sprache und entsprechenden Anwendungen einen starken Schub gegeben. Sprachsteuerung wird die Internetwelt durcheinander wirbeln und an das Marketing völlig neue Anforderungen stellen. Kaum gehören Browser und URL zum digitalen Alltag, werden sie schon wieder obsolet: Wer mit Audio-Tools wie Alexa, Siri oder Google kommuniziert, braucht keinen Browser mehr. Sprachsteuerung wird zum Gatekeeper, ein nicht zuletzt für eCommerce erschreckende Aussicht.

Kein Budget für F&E bei der KI?
Angebot Applied AI nutzen!
Unternehmen, die sich mit Investitionen in Forschung- und Entwicklung im Bereich KI schwer tun, können dennoch von KI profitieren. Sepita Ansari verwies auf Machine Learning as a Service, unter anderem von Microsoft (Azure ML Studio). Zur Optimierung des eigenen Geschäfts gebe es bereits viele nutzbare Anwendungen, unterstrich Jürgen Seitz. Er empfiehlt Unternehmen, sich stärker dem Bereich Applied AI anzuschauen. Und dort insbesondere in Audio zu investieren. Angesichts einer Screentime von durchschnittlich zehn Stunden pro Tag könne eine Intensivierung der Internetnutzung (wahlweise als Ambient Intelligence oder Ubiquitous Computing bezeichnet) quasi natürlich nur über Audio-Angebote erfolgen.

Alles bleibt
eine Frage der Zeit
Und da war sie, die Zeitfrage. In dem Maße, in dem die Beschleunigung zunimmt, wächst auch der Unmut der Nutzer: Ladezeiten werden immer schneller, parallel wächst die Ungeduld, muss man doch mal ein paar Sekundenbruchteile länger warten. Und was die Nutzer dann zu sehen bekommen, nehmen sie immer kürzer wahr: Die Thumb-Stopping Time beträgt bei Facebook nur noch 1,3 Sekunden!

Marcus Tandler, Experte für Suchmaschinenoptimierung, verwies darauf, dass beim Einsatz von Accelerated Mobile Pages (AMP) sich die Verweildauer der Nutzer verdoppelt. Aber die Entwicklung geht immer weiter: „Superfast will be the new normal!“, beschrieb  Sepita Ansari die Perspektiven.

Was ich sonst noch erfahren habe
eSports sind dann besonders attraktiv und massenwirksam, wenn das Publikum mehr Informationen über die sich entwickelnden Spielszenarien hat, als die beteiligten Spieler. Schon Regiealtmeister Alfred Hitchcock wusste Spannung zu erzeugen, in dem er das Publikum immer mehr wissen ließ, als den Protagonisten. Und deshalb ist für das Publikum das Zuschauen bei Wettkämpfen wie Counter Strike und League of Legends auf alle Fälle spannender, als bei FIFA!

Dialog-Post
hilft im eCommerce
Bei der Reaktivierung von Bestandskunden im E-Commerce sollte Dialog-Post nicht unterschätzt werden. Liegt der letzte Kauf des Adressaten nicht länger als vier Monate zurück, kann ein freundlicher Brief mit einem Angebot eine Conversion Rate von 6,5 bis 7,7 Prozent erreichen! Robert Käfert, Geschäftsführer von Collaborative Marketing Club, stellte diese guten Zahlen als Teilergebnis einer Studie vor, bei der insgesamt 1,26 Millionen Briefe an Bestandskunden von 50 eCommerce-Unternehmen verschickt worden waren.

Facebook: Die Nutzung von Facebook wird, gerade bei der jüngeren Zielgruppe, immer weniger, Instagram hingegen wird immer populärer.

E-Mails: Ähnlich sieht es bei E-Mails aus, auch hier versprechen andere Kommunnikationswege eine bessere Wahrnehmung. Erfolgt die Ansprache per E-Mail, liegt die Öffnungsrate bei 23 Prozent, die Klickrate bei 3,3 Prozent. Wird hingegen ein Messenger genutzt, liegt die Öffnungsrate bei 90 und die Klickrate bei 30 Prozent.

Die E-Privacy-Verordnung kommt wohl erst 2021, deutete Rechtsanwalt Peter Hense an. Bis dahin sollten sich Unternehmen beim Cookie-Setzen mit den (ja bereits bestehenden) Opt-In-Regeln vertraut machen. Sollte es nicht zu grundlegenden Änderungen kommen, werden diese dann verbindlich werden.

Best of Digital Marketing
Veranstaltung von HORIZONT und dfv Conference Group
am 2. August 2018 in München
Moderation: Wolfgang Borgfeld

Unter anderem mit
Dr. Sepita Ansari, Geschäftsführer und Mitgründer, Catbird Seat GmbH
www.catbirdseat.de
Jose de Cabo, Gründer, Head of EMEA, Olapic Inc.
www.olapic.com/

Jan Haase, Mobilisation Manager, Greenpeace e.V.
www.greenpeace.org
Peter Hense, Rechtsanwalt und Partner, Spirit Legal LLP
www.spiritlegal.com/de/
Arno Heinisch, CEO / Mitgründer der Rocket Beans Entertainment GmbH

www.rocketbeans.de
Meike Ipsen, Head of Communication, Catrice Cosmetics (Cosnova GmbH)
www.catrice.eu
Felix Jahnen, Head Of Global Digital Marketing, Mast-Jägermeister SE

www.jaegermeister.de
Robert Käfert, Gründer & Geschäftsführer, Collaborative Marketing Club – CMC GmbH
www.collaborativemarketingclub.com
Sven Krüger, CMO, T-Systems International GmbH
www.t-systems.com
Toan Nguyen, Executive Consulting Director, JvM/SPORTS; Partner JvM/STARS
https://jvmsports.de/
Frederik Schröder, Geschäftsführer, knowhere GmbH
www.knowhere.to
Prof. Dr. Jürgen Seitz, Hochschule der Medien Stuttgart
www.hdm-stuttgart.de
Marcus Tandler, Founder & Managing Director, Ryte GmbH
https://de.ryte.com/
Frank Vogel, Sprecher der Geschäftsleitung, G+J elMS
www.gujmedia.de/
 

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AN DIE KONTROLLPULTE. JETZT!
Wir brauchen „Digitalkompetenz“! 

Die in den siebziger Jahren geprägte „Medienkompetenz“ setzte beim kritischen Hinterfragen der Interessen von Sender und Empfänger an und schärfte die Sinne für die unterschiedlichen Stellschrauben bei der Rezeption von Magazintexten und Fernsehberichten. Aufklärung bedeutete, um die Mechanismen der Medienproduktion zu wissen und so in einer von Medien geprägten Gesellschaft mitreden zu können.

Genau da muss „Digitalkompetenz“ ansetzen. Für den in Berkeley lehrenden Datenexperten Andreas Weigend ist umfassendes Wissen um den Einsatz und die Nutzung digitaler Werkzeuge der Schlüssel, um „die Macht über unsere Daten“ wieder zu erlangen. In seinem Buch „Data for the People“ räumt er zunächst den Glauben aus, Individuen könnten ihre bei der Nutzung digitaler Instrumente entstehenden Daten quasi an der Quelle kontrollieren, einschränken oder schützen und gleichzeitig uneingeschränkt die Vorteile des jeweiligen Tools genießen. Das sei ebensowenig möglich, wie das Individualisieren von Daten, die (nicht zuletzt in den sozialen Medien) aus einer Verknüpfung vielfältiger individueller Informationen bestehen.

Der klassische Datenschutz greift für den ehemaligen Chefwissenschaftler von Amazon zu kurz, Weigend propagiert eine aktive Teilhabe der Nutzer am Prozess der Datenveredelung. Anknüpfend an der Metapher vom „Öl des 21. Jahrhunderts“ klärt er über die Raffinierungsprozesse der Datensammler auf, gibt Einblicke in die Kontrollräume und leitet hiervon sechs Rechte ab, durch die wir erst wieder zu kompetenten aktiven Teilnehmern der digitalen Gesellschaft werden: 

Zwei Rechte, um die Transparenz der Raffinerien zu erhöhen:
1. das Recht auf Zugang zu unseren Daten
2. das Recht zur Inspektion von Datenraffinerien, einschließlich
    a.des Rechts, eine Datensicherheitsprüfung zu sehen 
    b.des Rechts, eine Effizienzbewertung des Datenschutzes zu sehen
    c.des Rechts, eine Bewertung der Datenrendite zu sehen

Vier Rechte, um unsere Handlungsfähigkeit bezüglich unserer Daten zu erhöhen:
1.das Recht Daten zu ergänzen 
2.das Recht, Daten unkenntlich zu machen
3.das Recht, mit den Raffinerien zu experimentieren
4.das Recht, die eigenen Daten mitzunehmen“

Der promovierte Physiker erläutert schlüssig, was es zu fordern gilt, um das Gleichgewicht der digitalen Kräfte wieder herzustellen: „Wir brauchen Handlungsfähigkeit - die Fähigkeit, frei zu entscheiden, wie unsere Daten durch die Raffinerien genutzt werden. Wir müssen für uns einen Platz an den Kontrollpunkten der Raffinerien fordern.“ Das Buch „Data for the People“ ist in diesem Sinne ein Manifest und hochpolitisch.  

Revolutionär ist es nicht, denn Weigend setzt auf die Kräfte des Marktes. Mitunter schwingt im Ruf nach Selbstorganisation ein bisschen der Mythos vom „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will“ aus dem 19. Jahrhundert mit: „Die Forderung von einer Million oder eine Milliarde Nutzern lässt sich nicht so leicht ignorieren, noch weniger heute, wo eine Milliarde von uns (...) Zugang zu erstaunlichen Werkzeugen besitzt - viele davon von den Raffinerien selbst gebaut.“

Um diese Kontrolle zu erlangen, könnten aber einige sehr lukrativ anmutende Geschäftsideen helfen, die Weigend vorstellt: Warum sollte sich nicht beispielsweise ein von der Digitalwirtschaft getragenes unabhängiges Institut etablieren lassen, das von zertifizierten Hackern branchenweit Tests auf Datensicherheit durchführt? An anderer Stelle regt Weigend an, das Mehr oder Weniger an digitaler Privatsphäre (quasi den Kosten) mit einem Mehr oder weniger an Benefits (sozusagen den Nutzen) ins Verhältnis zu setzen und diese Effizienz des Privatsphärenschutzes durch eine unabhängige Instanz aus Datenexperten für uns evaluieren und kommunizieren zu lassen.

Es mag Weigends beruflicher Vita geschuldet sein, dass er erst nach Scheitern dieser Versuche die Zeit gekommen sieht, Druck auf Regierungen auszuüben, um entsprechende Regulierungen einzuführen. Ich denke, die Datenteilhabe und der Zugang zu den Kontrollpunkten von Raffinerien wie Facebook, Amazon und Google sollten umgehend politisch ins Auge gefasst werden. Denn das ist ein ganz dickes Brett, das zu bohren man nicht früh genug anfangen kann. 12.03.2018 - Wolfgang Borgfeld

Andreas Weigend
„Data For The People“
Murmann Publishers
ISBN 978-3-86774-568-0 

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